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Gedankenspiel - Entzauberung

Vor einigen Tagen höre ich den Begriff "Entzauberung" zum ersten Mal und Gedanken an dieses Wort begleiteten mich durch den Alltag. Ich stellte mir die Frage: "Wie kann es eigentlich zu einer Entzauberung kommen?".

In einer Welt, in der Individualität und Einzigartigkeit hoch im Kurs stehen, ist der Druck, aus der Masse herauszustechen, allgegenwärtig. Wir inszenieren und optimieren uns, präsentieren eine sorgfältig Version unserer selbst – online wie offline.

Was bleibt über, wenn diese Maske fällt? Wenn Ernüchterung eintritt? Warum streben Menschen so sehr nach Bewunderung? Oft liegt der Ursprung in einem tiefen Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung. Wir wollen gesehen, geliebt, bewundert werden. Die Selbstinszenierung wird zum Schutzschild gegen die eigene Verletzlichkeit, gegen die Angst, nicht gut genug zu sein.
 
Doch diese Strategie hat ihren Preis. Die ständige Sorge um die Außenwirkung, das permanente Vergleichen mit anderen, das Bemühen, eine perfekte Illusion aufrechtzuerhalten – all das zehrt an den Kräften. Und es führt zu einer Entfremdung von sich selbst. Anstatt man selbst zu sein und um unserer selbst Willen gemocht zu werden, vertreibt man andere damit.

Der starke Drang nach Anerkennung und im Vordergrund stehen zu müssen, hungrig nach Aufmerksamkeit und Gesehen zu werden vergrault die, die es ehrlich meinen, kann abstoßend und ernüchternd wirken. Diese Gier nach Aufmerksamkeit kann zu viel für den anderen sein.

Die Entzauberung ist ein Prozess, der oft schleichend beginnt, ganz subtil, wie ein Puzzle, das sich nach und nach zusammenfügt, bis ein klares Bild entsteht. Entzauberung beginnt häufig im Kleinen, bildet Verknüpfungen und irgendwann fügt sich alles zu einem Gesamtbild zusammen.

Vielleicht ausgelöst durch einen kleinen Riss in der Fassade, sicherlich mehrere Momente der Ehrlichkeit des Gegenübers, Worte, die trafen, aber anhand derer man schon vor Monaten erkennen musste, dass die vermeintlich gleiche Gefühlsebene doch eine andere ist. Zwei unterschiedliche Welten, die nicht zusammenpassten und man deswegen verschwiegen wurde.

Es sind die Worte, die im Gedächtnis bleiben, Selbsterkenntnis, dass man vielleicht zu viel gegeben, zu viel investiert hat in ein Miteinander, in dem die Prioritäten ungleich verteilt waren. Die letzten paar flapsigen Sätze, die ein ernsthaftes Gespräch ersetzen sollten - ein einziger Satz kann hier sicherlich genügen, um zu offenbaren, worum es eigentlich nur ging und wo die Prioritäten lagen.

Verbindlichkeiten, die scheinbar Platz für Interpretationen ließen. Ansprüche, die selbst nicht erfüllt werden konnten und doch so wichtig waren. Zusagen, die im Nichts endeten. Umgekehrte Schuldzuweisungen. Und wieder das Gefühl, Mittel zum Zweck gewesen zu sein. Vielleicht ist auch die Rolle schuld, wer weiß das schon.

Manchmal sind es Taten, die diese Entzauberung auslösen. Manchmal viele kleine Taten. Oder auch - keine Taten, Stille, Ignoranz, keine Worte statt offene Kommunikation. Stille ist gefährlich, sie lässt viel Platz für Interpretationen, die Gedanken regeln den Rest. Interpretation der Stille schlägt irgendwann fehl und wird unwichtig. Irgendwann wird ein Zurück kaum noch vorstellbar, Ernüchterung macht sich breit.

Fehlende Signale, überdeckt durch den Alltag, kalte Ignoranz zerstört den Rest. Das letzte bisschen wird mit Stille anstatt Worten bereinigt. Entzauberung erleben wir auch, wenn man zu spüren bekommt, wie unwichtig man für den anderen wird. Der Gedanke, doch wieder nur eine Heimlichkeit in einem Pool aus Auswahlmöglichkeiten zu sein, ließ schon lange Erwartungen schrumpfen. Prioritäten werden neu geordnet und bringen Selbsterkenntnis.

Nähe ist kaum noch vorstellbar, die Frage nach der Reparierbarkeit hüllt sich in Schweigen. Die Erkenntnis, dass Anerkennung wichtiger zu sein scheint als Miteinander. Eine Wahl, die von vorherein verloren ist. Auch das entzaubert. Die Frage nach der eigenen Dummheit taucht auf, Gefühle stagnieren und werden durch den Frühling hinweggespült. Treue Stunden der Zweisamkeit geraten in Vergessenheit.

Ohne ehrliche Bemühungen und Aufrichtigkeit kann es kein "Weiter" mehr geben. Und der Gedanke an die Entzauberung, wie lange man diesen schon mit sich herumschleppt - es bahnte sich an.

Entzauberung kann schmerzhaft sein, denn sie konfrontiert uns mit der Gewöhnlichkeit, mit der Banalität hinter der glänzenden Oberfläche, die man einst sah. Aber Entzauberung kann auch durchaus bereinigend sein, es ist wie ein Prozess.



Entzauberung ist letztlich also eine Einladung zur Selbstreflexion. Sie fordert uns heraus, unsere eigenen Bedürfnisse und Erwartungen kritisch zu hinterfragen und die Art und Weise, wie wir Beziehungen mit unseren Mitmenschen gestalten, zu überdenken.